o8 // Verkennung

           Es war für Huxley Picquery in gewisser Weise durchaus von Vorteil, ein gesamtes Leben im Schatten ihrer großen Schwester verbracht zu haben. Seraphina war auf natürlichem Wege immer schon das fatalistische Wunderkind der gesamten Familie gewesen; genial, klug, gewitzt, strategisch begabt und seit sechs Jahren Präsidentin der magischen Gemeinschaft Amerikas. Huxleys Leben war im Vergleich kaum so glorreich abgelaufen, dass sie sich auch nur im Traum mit ihrer Schwester zu messen wagen würde. Ohne Umschweife hatte sie sich in Ilvermorny dem Haus der Pukwudgies angeschlossen (was offengesprochen ein Skandal für die Picquerys war, da ihre lange Blutlinie sich seit dem achtzehnten Jahrhundert durch das edle Haus der Gehörnten Schlage gezogen hatte), nur knapp ihre Schulausbildung zu einem Abschluss gebracht und es sich bis ans Ende ihrer Tage in einer niederen Abteilung des MACUSA bequem gemacht, um mit hochgelegten Füßen und mindestens drei höchst improvisierten (und meist unabsichtigen) Schläfchen am Tag das Arbeitsleben zu überstehen. Huxleys Plan war schlicht, aber effizient, und sie war sich im Nachhinein sicher, dass sie noch mindestens sieben weitere Jahre in ihrem Delirium geschmort hätte (und munter Steuern hinterzogen), wäre nicht eines Nachmittags ihre Schwester in ihr Büro gestampft und ihr stumpf, aber direkt erklärt hätte, dass die Welt an einem Abgrund stand, von dem Seraphina selbst sie nicht mehr zurückreißen könnte.


„Huxley", hatte sie in ihrem üblich kühlen, stählernen Tonfall begonnen, kaum, dass sie in das unterbelichtete Büro ihrer kleinen Schwester getreten war. „Du weißt, dass ich mir geschworen habe, kein Wort mehr mit dir zu sprechen, ehe nicht das Ende allen was mir gut und heilig ist bevorsteht, aber ich wage zu befürchten, dass genau dieses Szenario eingetreten ist." Huxley setzte sich auf und versuchte ihr offenes Unwohlsein so gut wie möglich unter Verschluss zu halten.


Das letzte Mal, dass sie einer Putzkraft den Zugang zu ihrem Büro erlassen hatte musste bestimmt vier Monate her sein, denn anders konnte sie sich in ihrer plötzlichen Konfrontation mit dem polierten Äußeren Seraphinas das Chaos in ihrem Zimmer nicht erklären. Der Raum maß kaum zehn Fuß ins Quadrat, und trotzdem (oder vielleicht sogar deshalb) hatte Huxley es geschafft, ihn im Alleingang in größte Entropie zu versetzen. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich monatealte Pergamente, Rechtserklärungen und Geschäftsbriefe, wild durchmischt mit willkürlich aufgeschlagenen Nachschlagewerken aus der MACUSA Staatsbibliothek, deren Rückgabefrist bereits um Wochen überschritten war. Huxley fragte sich milde betreten, ob die Bibliothek diese Lektüren überhaupt zurücknehmen würde, so zerknittert waren die einzelnen Seiten durch die fehlerhafte Belastung anderer Gegenstände, deren krumme Türme sich mehrere Fuß in die Höhe reckten.


Es waren wackeligere Stapel, als die magische Welt sie kaum je gesehen haben und vermutlich je sehen würde, denn die einzige Erfindung und Qualifikation, in der Huxley unglaublichen Stolz trug, war ihr Anti-Destabilisierungs-Zauber, den sie in ihrem Hass auf die nervenaufreibende Tätigkeit des Aufräumens im Alter von vierundzwanzig entwickelt hatte. Leider half ihr diese manisch aggressive Stapelung aller ihrer Probleme lediglich sie zu komprimieren, nicht aber zu reduzieren und so war ihr gesamtes Büro ein winziger Irrgarten aus den wildesten Stapeln, die der Gravitation auf angsteinflößende Art und Weise entgegenwirkten.


„Was versuchst du mir damit zu sagen?", verlangte Huxley zu wissen und verschränkte in ihrer gelümmelten Haltung die Arme vor der Brust. Sie hob dabei ihre Schultern in solch einer desinteressierten Manier an, dass selbst Seraphina ob so viel stoischer Ignoranz ihrer Persona gegenüber unwillkürlich Verblüffung zeigen musste.


„Ich versuche dir zu sagen, kleine Schwester", bemerkte sie kühl. „Dass während wir hier reden, externe Mächte daran arbeiten das zu zerstören, woran wir seit Jahrhunderten arbeiten und wofür wir mehr einstehen, als für alles andere."


Huxley blickte in das elegante Gesicht ihrer Schwester und versuchte aus ihren gemeißelten Gesichtszügen eine Regung oder Emotion zu entnehmen, die ihr den Ausgang dieses Gesprächs verraten würden. Aussichtlos.


„Wovon in aller Welt sprichst du?", wollte Huxley verdattert wissen und setzte sich nun doch etwas aufrechter hin.


„Ich rede von unserer Unabhängigkeit, Huxley. Von unserer Fähigkeit in einer verborgenen Gesellschaft zu existieren, zu gedeihen und gar Seite an Seite mit einer ahnungslos kapitalistischen Meute zu koexistieren, deren Wissen von unserer Welt auf Märchen und Hexenjagden im Mittelalter basiert. Ich rede von einem Niederriss dieses Identitätswalls, Huxley, der unser aller Untergang sein wird."


Huxley nickte düster, kaum, dass sie die Kernaussage begriffen hatte. „Grindelwald", sprach sie aus und sah ihrer Schwester das erste Mal direkt in die Augen. „Ist er nicht seit Wochen untergetaucht?"


Seraphina lächelte bitter und ihre Augen erloschen in einem frostigen Schimmer. „Untergetaucht heißt weder untätig noch ungefährlich, kleine Schwester. Grindelwald ist immer und überall, egal ob er sich physisch blicken lässt oder nicht."


Huxley lehnte sich vor und stütze ihre Ellbogen auf einem winzigen Fleck freien Schreibtisches ab. „Und was lässt dich vermuten, dass er unser Land anvisiert hat?"


„Letzten Montag ist ein britischer Zoologe in unser Land einmarschiert, mit einem magisch vergrößerten Koffer in der einen und unserem Untergang in der anderen Hand. Seitdem herrscht in meinem Land offengesprochen Chaos. Wer in diesem Koffer sonst noch mitgereist ist, bleibt offen." Seraphina knüpfte mit ruhiger Effektivität ihren Umhang zu. „Kann man zu Muggle Nachkriegszeiten wie diesen überhaupt erwarten, dass Kontrollen mit einer tiefgründigen Effizienz durchgeführt werden?" Sie richtete sich ihren Kragen und tat eine auffordernde Handbewegung in Huxleys Richtung.


„Komm, kleine Schwester. New York, du und ich haben einen langen Tag vor uns."


Huxley erfuhr erst auf dem Weg Richtung Bronx, warum ihre Schwester beschlossen hatte, ihre mickrige Wenigkeit für eine so wichtige Mission zu wählen. „Wenn ich falsch liege, könnte mich das das Ende meiner Karriere kosten. Politische Instanzen, die blinden Alarm schlagen finden nie einen glimpflichen Ausgang. Ich kann nur mit Leuten arbeiten, auf deren Loyalität ich blind zählen kann."


Huxley beschloss, sich nicht zu beschweren und wenn ihre Schwester meinte, sie müsse ihre Genialität unter Verschluss halten, so wäre sie die letzte, die ob dieser Umstände in Protestgeheul ausbrechen würde. Natürlich hatte Seraphina sie gezwungen, sich etwas sittlicher anzuziehen, selbst aber nicht den komplizierten Kopfschmuck abgelegt, der sich in seiner Schlichtheit mit ägyptischer Eleganz um ihre Stirn zu schlingen schien. Huxley trug nun einen Hut, der ihr im exakt gleichen Modell etwa drei dutzend Mal am Tag unterkam und somit wohl die gelungenste Assimilierungstechnik war, die ihrer Schwester hätte einfallen können. Zudem war sie in einen dieser affigen Filzmäntel gezwungen worden, die gesittetere Damen ihrer Zeit und Gesellschaftsschicht zu tragen pflegten, sobald etwas geistreicheres als Abendunterhaltung am Programm stand und somit geringfügig akademische Relevanz bewiesen werden musste.


„Warum glaubst du, dass dieser Zoologe irgendetwas mit Grindelwald zu tun hat?", fragte Huxley und beobachtete mit gediegenem Interesse, wie sich ein längliches Automobil an ihnen vorbeischob. Es war schwarz.


„Es weist vieles darauf hin, aber kannst du dir wahrhaftig vorstellen, dass ein Mann, der nichts mit dunkler Magie am Hut hat, unseren Exekutionseinrichtungen entkommen kann?", kam Seraphinas Antwort postwendend.


Huxley zuckte nur mit den Schultern. „Glück?", fragte sie zaghaft.


Ihre Schwester schnaubte und schob sich durch eine Gruppe weißgewandeter Herren. „Glück ist kein wahrhaftiges Konzept im Angesicht des Todes. Das einzige, das noch bleibt, ist dann Verzweiflung."


Es schauderte Huxley, ihre Schwester so beiläufig und emotionslos von den Tötungsverfahren der MACUSA sprechen zu hören. Für Huxley war Gnade immer schon das oberste Gut gewesen und wer sie nicht bieten konnte, der verdiente sie. Zum anderen war ihre Schwester immer mehr eine berechnende Gestalt gewesen, die sich Huxleys innerstem Streben nach der allgegenwärtigen Güte der Pukwudgies kaum mehr entgegensetzen könnte.


„Wohin gehen wir überhaupt?", wollte Huxley wissen und stapfte unwillig hinter ihrer Schwester her. „Diese Gegend scheint mir nicht zwingend das optimale Geheimquartier Grindelwalds zu beherbergen."


Seraphina drehte sich um und bedeutete ihrer Schwester stehenzubleiben. „Wir sind auf dem Weg in ein Speakeasy", erklärte sie schlicht und blickte ihr Gegenüber ruhig an, während sie es gleichzeitig bewerkstelligte, rasch über ihre Schulter zurückzublicken, um die Gasse auf eventuelle Verfolger zu überprüfen. Huxley starrte ihrer Schwester aber lediglich ins Gesicht und versuchte zu ergründen, ob sie Witze machte oder den Verstand verloren hatte. So sehr sie sich über die plötzliche Aufmerksamkeit ihrer Wunderschwester auch freute, mit einem Speakeasy ging sie in ihren Augen doch ein paar Schritte zu weit.


„Der Zoologe und seine Komplizin wurden dort gesichtet", erklärte Seraphina schroff. „Wir machen einen nachträglichen Routinebesuch und erkundigen uns nach allem, das ungewöhnlich erschienen ist. Wenn Grindelwald draußen war, dann zu diesem Zeitpunkt. Vielleicht finden wir einen Hinweis." Huxley nickte und ließ sich von ihrer Schwester weiterziehen. „Und wozu brauchst du mich?", fragte sie, ehe sie rasch hinzufügte: „Nicht, dass ich mich nicht freuen würde, ich begreife nur meine Relevanz in diesem kleinen Fall nicht."


Seraphinas Turban wippte auf und ab, aber sie drehte sich nicht um. „Ein zweites Paar Augen schadet nie. Außerdem hast du ein wesentlich tieferes Verständnis von Menschen als ich. Ich durchschaue sie, aber dadurch begreife ich sie noch lange nicht. Vielleicht kannst du anhand deiner Umgebung vermuten, was ihr nächster Zug sein wird." Huxleys Handflächen begannen zu schwitzen. Jetzt hatte sie eine Aufgabe; eine nicht allzu unbedeutende Aufgabe noch dazu. Das erste Mal, seitdem sie ihren Quidditchposten in der Schulmannschaft aufgegeben hatte, wurde sie von dem Gefühl übermannt, etwas für das allgemeine Wohl zu tun. Für das größere Wohl.


Huxley straffte die Schultern und folgte ihrer Schwester durch das Gassengewirr. Sie sprachen kaum ein Wort, während die durch die Hinterwindungen New Yorks schlichen. Die Bronx war Huxley immer vorgekommen wie das Betriebszentrum der Stadt; eine verhältnismäßig hässliche Gegend, die fast immer desertiert war und in die sich Leute nur dann wagten, wenn sie ein ernstes Problem zu lösen hatten, das in seinem Keim erdrosselt werden musste.


„Da ist es", murmelte Seraphina und wies auf eine Seitengasse, die an ihrem Ende ein hübsches Fresko trug. „Sehen wir uns um."


Die beiden Schwestern traten ohne sich umzudrehen in den verlassenen Straßenabschnitt hinein, und während Seraphina mit ihrer üblichen Ruhe auf das Bild an dessen Ende zuschritt, so ging Huxley mit wesentlich größerem Bedacht vor; ja, stakste beinahe besorgt über das gepflasterte Sträßlein, als erwarte sie allerlei Unglück in jeder einzelnen Fuge.


„Im Namen MACUSAs und des Rates ersuchen wir Einlass für einen angekündigten Routinebesuch am Ermittlungsort eines aktuellen Verbrechensfall der amerikanischen Zauberergemeinschaft", ordnete Seraphina deutlich und geradezu überartikuliert der gemalten Dame an, die ihr einen unwilligen Blick zuwarf, ehe sie nicht ihren Durchgang räumte und den Schwestern Durchlass gewährte. Die Wand bröselte hinfort wie eine billige Illusion und gab den Blick auf das Speakeasy frei.


Huxley hatte viel erwartet, als ihre Schwester angekündigt hatte, dass sie nun ein Speakeasy aufsuchen würden—nur nicht das. Sie hatte wohlartikulierte Herren und galant gekleidete Damen erwartet, niedrige Decken und saubere Tische, starke Drinks und illegale Geschäfte.


Der Anblick der sich ihr bot, war lasch. Die gewölbte Kellerdecke warf Putz wie einen Regen des Mitleids auf die Handvoll erbärmlicher Kunden ab, die mit leerem Blick in noch leerere Gläser starrten, ohne den Kopf zu heben, als die Präsidentin ihrer verborgenen Gemeinschaft eintrat.


„Wer führt diese mickrige Einrichtung?", fragte Huxley ihre Schwester skeptisch und ließ ihren Blick suggestiv über die Trunkenbolden an ihren Tischen schwenken.


„Ein Kobold, Gnarlak", erwiderte Seraphina ruhig, und schritt mit aristokratischer Gewissheit um einen der Rundtische. Ihre Fingerspitzen streiften dabei mit leichtfertiger Selbstverständlichkeit die verdreckten Stuhllehnen und hinterließen eine feine Spur der exakten Sauberkeit. „Er führt eine dieser gemeingefährlichen Gangs in Hell's Kitchen an."


„Und er hat MACUSA verständigt?", verlangte Huxley zu wissen und hob eine Augenbraue. „Ist das nicht entgegen seines Interesses?" Sie folgte ihrer Schwester mit wachsamen Blick, als diese in lethargischer Eleganz auf den Tresen zuschwebte.


„In Gegenzug für vollständigen Erlass all seiner vergangenen Verbrechen, ja." Seraphina ließ sich auf einen Barhocker gleiten. „Und wenn er bereit ist zu sprechen, so sind wir bereit zu verzeihen."


Es stieß Huxleys Sinn für Gerechtigkeit bitter auf, dass man ein Leben derartig gegen das andere aufwiegen würde. Dass man die Opfer eines Kobolds wie Gnarlak vergessen konnte, um seine eigenen Feinde zur Strecke zu bringen. Wie konnte man bloß einem Verbrecher seine Sünden verzeihen und sich nichtsdestotrotz einen Rechtsstaat schimpfen?


„Und ich habe einiges an Informationen, die sie interessieren könnten, Präsidentin Picquery", drang plötzlich eine unangenehm schnarrende Stimme an ihre Ohren und Huxley überlief es eiskalt. Der kleine Mann, der sich hinter dem Tresen hervorschob, widerte sie auf unerklärliche Art und Weise an. Sie wusste, dass sie als starke Vertreterin der Schutzrechte niederer Rassen (per so definiert 1833, Huxley biss sich jedes Mal auf die Zunge, ehe sie diese Bezeichnung über ihre Lippen zwang) kaum ein Vorurteil in ihren Weg stolpern lassen würde, aber es war die schleimig opportunistische Art Gnarlaks, die sie mit tiefem Ekel erfüllte. Es war so stereotypisch koboldhaft, dass sie die Rasse unwillkürlich für ihren Unwillen sich besser zu präsentieren verfluchte und sich fragte, ob sie gerne zum Objekt der Diskriminierung in der Zauberergesellschaft degradiert wurden.


„Dann sprecht, Gnarlak", bestimmte Seraphina kühl und faltete ihre Hände auf der Tischplatte. „Redet euch in die Freiheit."


Gnarlak erwies sich nach fünfzig Sekunden als wertlos. Während Seraphina, dieser Tatsache unbewusst, beschloss, den Kobold mit subtil ungewöhnlichen Fragen zu durchlöchern, entschuldigte Huxley sich aus dem Gespräch und schlenderte desinteressiert durch die kreisrunden Tische, ehe sie sich nicht gegenüber von einem zerrupften Herrlein innehielt und sich gegenüber von ihm an den Tisch sinken ließ.


Sein Glas war leer und nur ein dünner Film an dessen Boden ließ erahnen, dass einmal Feuerwhiskey dringewesen war. Der Mann machte eine einen erbärmlichen Eindruck auf Huxley; sein Hemd war zerschlissen und hatte an mehreren Stellen dunkle, schimmelnde Flecken, über deren genauen Ursprung sie gar nicht so viel wissen wollte. Sein Haar war lang, aber ungepflegt und hing in einzelnen, lichten Büscheln über seine Stirn.


„Ich höre Ihr sucht Informanten im Gegenzug für gerichtliche Immunität?", krächzte ihr Gegenüber und lehnte sich vertraulich vor. „Ich glaube, ich kann euch entschädigen für den Schwachsinn, den Gnarlak dort drüber verzapft." Er wies mit einer beiläufigen Handbewegung auf den Kobold, der aalglatt seine Lügen in Seraphinas wackelige Ermittlungen goss.


Mit einem Blick auf ihre Schwester lehnte Huxley sich ihrerseits vor und forderte den Mann zum sprechen auf. „Redet", murmelte sie aufgeregt und sah ihn aus großen Augen an. Er strich sich über sein spärliches Haupthaar und zog sich seinen Hut tiefer ins Gesicht.


„Zuallererst", begann dieser wichtigtuerisch und kratzte sich an der Nase, „möchte ich, dass ihr Euch der Tatsache bewusst macht, wo ihr jetzt seid und wo letzte Nacht die Agenten eurer kleinen Irrenbande herbestellt wurden."


„Die Bronx", kam es von Huxley wie aus dem Zauberstab geschossen und sie runzelte die Stirn. Das war eine komische Art und Weise, ein Gespräch wie dieses einzuleiten und sie konnte nicht umhin sich zu fragen, ob der Mann sich momentan verzweifelt um Kopf und Kragen redete oder tatsächlich eine relevante Information nur sehr unkonventionell verpackte.


„Falsch", riss der Mann sie aus ihren Gedanken und zeigte ihr ein zahnloses Lächeln. „Ihr seid im Zum Wilden Schwein und das bedeutet, dass ihr gleichzeitig überall wie nirgends seid."


Huxley versuchte einen Sinn aus seinen Worten zu machen. Sie stützte ihre Ellbogen an der dreckigen Tischplatte ab und bereute es im selben Moment. Bröseliger Putz bohrte sich in ihre Unterarme wie eine grausliche Liebkosung.


„Was?", bohrte sie irritiert nach und beäugte nun das leere Glas vor dem Mann mit einem besorgten Blick. Hatte sie ihn richtig gehört?


„Ich will Ihnen auf die Sprünge helfen, Lady", meinte er gönnerhaft und zog eine Serviette unter seinem Glas hervor. Wie aus dem Nichts materialisierte sich eine Feder neben seinem Kopf und er griff sie aus der Luft, ehe er begann, komplizierte Muster auf das dünne Papier zu schmieren.


„Das hier", meinte er und deutete mit der Feder auf die einzelnen Sektionen seines Bildes, „sind die diversen Boroughs New Yorks. Gestern Abend wurde Newt Scamander um ein Haar in Greenwitch Village gefasst, im Speakeasy zum Blinden Schwein. Wo sitzen wir heute?" Er kreiste das Bronxpendant auf seiner Serviette ein. „Zum Blinden Schwein ... in der Bronx."


Huxley zuckte die Achseln. „Und, dann gibt es halt mehrere Filialen, große Sache."


Energisch schüttelte der Mann den Kopf. „Oh nein, das Blinde Schwein gibt es nur eines." Er kreiste Greenwich Village ein. „Und das ist hier."


Huxleys Gehirn ging ein paar Runden auf Leerlauf, ehe es den Gedanken zuließ, auf den der alte Mann hinauswollte. „Ein auto-reflexives Raumkontigent. Das Blinde Schwein wandert!"


Erleichtert nickte er und ließ wieder sein zahnloses Lächeln sehen. Dafür, dass seine Aufgabe im pflegerischen Bereich seiner Mundpartie bisher sträflich vernachlässigt worden war, war sein zahnloser Mund immer noch ein erschreckend unhygienischer Anblick. „Das ist ein typischer Schutzmechanismus eines magischen Speakeasys" erklärte er und drehte sein Glas rastlos zwischen den Fingern. „Momentan versteckt sich das Blinde Schwein hier, weil es droht unter den ganzen MACUSA Untersuchungsbeschlüssen seine letzten Tage hinter sich zu haben. Es wehrt sich wie ein lebender Organismus, eh?"


Huxley nickte heftig. Sie spürte, dass da noch mehr, noch relevanteres kam, also schwieg sie, bis der Mann bereit war, seine siedend heißen Details zu teilen. Er lehnte sich vor und Huxley bemerkte mit mildem Ekel, wie sein zotteliges Haar dabei die Tischplatte streifte.


„Ich habe das Blinde Schwein nur ein weiteres Mal an einem fremden Ort gesehen", murrte er ihr zu. „Letzten Donnerstag hat es sich entgegen all seiner magischen Bedingungen in eine verborgene Seitengasse hinter dieser irren Salemvereinigung gepflanzt. Ich habe lange magischen Transport studiert und kann Euch aus erster Hand bestätigen, dass ein kontrollierter Ortswechsel wie dieser mit unbeschreiblicher Macht einhergeht." Er nickte wissend und sah Huxley in die Augen. „Unglaublich willkürlich und komisch, hab ich mir zuerst gedacht, aber Ihr werdet nicht glauben, wer dann durch die Tür spaziert ist."


Lass es Grindelwald gewesen sein, lass es Grindelwald gewesen sein, wiederholte Huxley ihr Mantra durchdringend laut in ihrem Kopf und gerade als sie es kaum mehr aushielt fragte sie: „Ja?"


„Percival Graves", platzte es stolz aus dem Mann hervor und Huxley ließ sich entnervt zurückfallen. Natürlich eine Sackgasse, was anderes hatte sie bei einem Verrückten wie diesem hier erwartet? Warum klammerte sie sich immer an so einem dünnen Halm der Hoffnung fest? Dabei war sie sich so sicher gewesen, dass etwas Gutes dabei war. So sicher. Ihr Instinkt täuschte nie.


„Ich sag's euch, irgendetwas an diesem Mann ist faul, kein Mensch kann alleine so viel macht aufbringen—", brabbelte er vor sich hin, aber Huxley beachtete ihn nicht mehr.


„Seraphina", rief sie quer durch den Raum und stutzte beinahe sofort. Für einen Moment war sie sich sicher, dass es ihre Stimme war, die so dumpf und hohl den Namen ihrer Schwester skandierte, bis nicht ein galoppierende Bär an ihr vorbeischoss, um im selben Tonfall ihrer Schwester eine Botschaft zu überbringen: „New York wird zerstört, Scamander und Goldstein wurden im Auge des Sturms gesichtet. Es übertritt bei weitem ihre Fähigkeiten, sie müssen Verstärkung irgendeiner Weise gefunden haben. Eure Hilfe ist dringend gefragt, Präsidentin."


Kaum hatte sich der Patronus in die schwadigen Nebelfetzen seiner Entstehung aufgelöst und die blauen Schlieren sich in der verrauchten Luft des Speakeasys verloren, warf Seraphina ihrer Schwester einen bedeutungsschweren Seitenblick zu. „Grindelwald", flüsterte Huxley und die ältere nickte mit einer ihr komplett fremden, wütenden Determination. Sie wusste nicht, in welchem Zusammenhang der Zoologe mit Grindelwald stehen würde, nur, dass es heute möglicherweise so weit war, dass er in ihre Arme laufen würde.


„Wir apparieren sofort", kündigte sie an, laut genug, dass der Koboldgangster sie von seinem Platz am Tresen aus problemlos hören konnte. Er paffte desinteressiert an seiner Zigarre und sah ungemein selbstzufrieden aus. Huxley stand auf (nicht ohne dem verwirrten Mann einen mitleidigen Blick zuzuwerfen) und durchquerte den Raum in wenigen Schritten.


„Bereit?", fragte sie ihre Schwester und hielt ihr die Hand hin.


„Was auch immer passiert", sagte Seraphina und legte ihrer kleinen Schwester die Hand auf die Schulter. „Bleib dicht hinter mir."


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A/N: Hallo ihr Lieben,
Ich hoffe ihr verzeiht mir meine Verspätung!
Wer findet die Figur, auf der Huxley in Fantastic Beasts basiert? Großer Tipp:



Durch Huxleys offensichtlichen Inferioritätskomplex ihrer Schwester gegenüber, appelliert dieser Beitrag an das Konzept derjenigen, die unbeachtet sind oder als weniger wert geschätzt werden, weil die Konformität ihres Umfelds das so konstituiert.


Trotzdem entscheidet sich Huxley dafür, dem Mann keine Glaubwürdigkeit einzuräumen, eben weil sie es nicht anders kennt und somit der natürlichen Ordnung ihrer Gesellschaft entspricht. Damit geschieht eine doppelte Degradierung—Verkennung—derjenigen, denen mehr Menschenwürde zusteht, als sie einander überhaupt konzedieren.


Love y'all lots,
Emma xx

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