10 // Kreisschluss

           Lily Evans hatte sich den Tod anders vorgestellt.


Sie hatte ihn sich kühl und frostig, uneinladend und kaltherzig ausgemalt – wie einen eisigen Klammergriff um ihre Seele bis in alle Ewigkeit. Wenn der grüne Schein eines Todesfluches ihr das Leben nehmen würde, hatte Lily oft stumm bei sich gedacht, so wäre das eine frostigere Angelegenheit, als schottische Winter.


In gewisser Weise hatte sie falsch gelegen. So war der Tod weder kalt, noch in irgendeiner Weise an die Grenzen des Unendlichen gebunden. Viel mehr war sie sich sicher, dass ihr eigener Tod nicht länger als sieben Minuten angehalten hatte, ehe sie nicht die Augen aufschlug und ihr eine Welle warmen Lichts entgegenschwappte.


„Was?", brach es stumm über ihre Lippen und sie versuchte zu blinzeln, aber ihre Augenlieder hatten sich der Autonomie gewidmet. Kraftlos versuchte sie zu begreifen, was geschehen war, aber ihre Gehirnwindungen schienen ermattet und ihre Gedanken kaum tatkräftiger als einzelne Worte. Sie nahm den müffelnden Teppichboden unter sich wahr, der gegen ihre Schulterblätter drückte und förmlich Staub zu atmen schien. Sie hörte das Surren einer alten Schirmlampe, die sie aus ihrer Kindheit kannte und in ihrem stetigen Klappern Lilys Nervosität zu mildern vermochte. Sie erinnerte sich, dass so eine kleine Leuchte immer in der Küche ihrer Mutter gestanden hatte und ihr bis zum bitteren Ende in dem gemächlichen Prozess des Gemüsehackens Licht gespendet hatte. Bitteres Ende, echote das Wort in ihrem Kopf wider, aber sie war nicht in der Lage, diesen Begriff an etwas Konkretem festzumachen. Ende, fragte sie sich stumpfsinnig. Anfang?


Lily Evans öffnete die Augen und mit dem Licht strömten in bestimmte Teile ihres ermatteten Gehirnes bruchstückhafte Erinnerungen ein.


Ihr Sohn, durchfuhr es sie wie ein Messerstich und sie fuhr auf, als hätte ein Stromschlag sie durchschossen. Ging es ihm gut?


Ihr Kopf drehte sich vor lauter Schwindel und ihre Augen tränten, als sich die schwarzen Flecken in ihrem Blickfeld breitzumachen begannen, aber sie drehte sich dennoch hektisch um, selbst ohne Sicht in Sorge um ihren Sohn.


„Harry?", fragte sie mehr instinktiv als gewollt, und ehe sie sich die Frage stellen konnte, wer denn nun der benannte Junge sei, wusste sie, dass es ihr Sohn war. „Harry?"


Als ihre Sicht endlich klar wurde, erkannte sie den Raum nicht als das Schlafzimmer ihres Kindes wieder. Sie konnte das Zimmer keinerlei architektonischen Gegebenheiten ihres kleinen Hauses in Godrics Hollow zuordnen und selbst wenn sich jemand daran gemacht hätte, das Haus im Zeitraum ihrer Bewusstlosigkeit zu seiner Gänze zu renovieren, so hätte Lily es immer noch als ihr eigenes erkannt. Ihr Aufenthaltsort war ihr fremd und das Unwissen ob des Wohlbefindens ihres Sohnes ließ sie erzittern wie ein mattes Häufchen Espenlaubes. „Harry, wo bist du?", bibberte sie ein letztes Mal und umschloss ihren zitternden Körper mit ihren kraftlosen Armen. „Harry?"


„Das fragst du jedes Mal als erstes", drang eine Stimme von der Tür her und Lily fuhr zusammen. „Wo dein Sohn ist, meine ich."


„Was?", stieß sie verwirrt hervor, und drehte sich zum Ursprung der Stimme um.


Im Türrahmen lehnte eine alte Frau. Lily schätzte sie rein physiognomisch auf achtzig, aber ihre Statur sprach von einem geringeren Alter. Das Gesicht der Dame war zerfurcht vor Falten und Altersflecken, mit eingefallenen Wangen und hohlen Zügen. Einzig ihre Augen leuchteten grün und klar aus dem Sinnbild der Trübnis hervor wie zwei zeitlose Edelsteine, die in ihren alten Kopf eingelassen worden waren als ewige Bekundung des Zeitflusses. Sie stand für ihr Alter aufrecht und stolz – ja, nahezu herrschaftlich – wie sie da auf Lily Evans blickte wie eine alte Bekannte. „Du hättest eine wunderbare Mutter abgegeben, Lily", seufzte die alte Dame und bewegte sich vorsichtig auf das Mädchen zu.


„Weißt du, wo du bist?", erkundigte sich die alte Dame mit maßgeblicher Vorsicht. „Weißt du, wer ich bin?"


Lily zögerte kaum unmerklich, ehe sie nicht den Kopf schüttelte. „Ich habe Euch in meinem Leben noch nie gesehen, Madam", murmelte sie, während sie versuchte unauffällig aus dem Fenster zu spähen. „Ebenso wenig kann ich eine sichere Aussage über unseren Aufenthaltsort garantieren, nur, dass ich mich an einen aufleuchtend grünen Blitz erinnere, und dass dies nie eine sonderlich beruhigende letzte Erinnerung ist." So wie sie es aussprach wusste sie, dass es stimmen musste. Die Erinnerung prasselte auf sie ein wie saurer Regen und verätzte ihre Seele mit der Gewissheit des Endes. Lily war klug genug um zu wissen, dass in der Situation, in der sie sich wiedergefunden hatte, der Tod der einzig logische Ausgang war – und so verzog sich ihr Gesicht angesichts des Nachlebens, in das sie wohl hineingepurzelt sein musste. In der Obhut einer kleinen Vettel ihr unendliches Dasein zu fristen schien ihr kaum wünschenswert.


Die alte Dame klatschte in die Hände. „Wir sind in in Albanien, Lily."


Überrascht blinzelte Lily und schob sich ein paar Handbreit dichter an das Fenster. „Albanien? Aber ich dachte-"


„Man denkt viel, wenn der Tag lang ist, Lily Evans. Und dein Tag hat soeben ein weiteres Mal die Essenz der Unendlichkeit gewonnen."


Lily starrte die alte Dame aus großen Augen an. Wie war sie bloß in den Fängen dieser verwirrten Scharteke gelandet? Wo war sie? Und wo in aller Welt war Harry?


„Ich habe keine Ahnung wovon sie reden", räumte Lily ein, und strich sich eine Strähne ihres roten Haars unwillig hinter das Ohr. „Ich will nur meinen Sohn sehen."


Die alte Frau lächelte und löste sich aus dem Türrahmen. „Das kannst du nicht. Er ist jetzt wo anders."


Erschrocken fuhr Lilys Blick hoch und sie musste sich an einer Tischkante zu ihrer rechten festklammern, um nicht jäh das Gleichgewicht zu verlieren. „Harry ist tot?"


Energisch schüttelte die Frau den Kopf. „Um Merlins Willen, nein, dein Kind sollte kerngesund sein." Sie legte den Kopf schräg. „Soweit wir das in dieser Zeit beurteilen können, meine Liebe."


Lily schüttelte energisch den Kopf. „Ich begreife nicht, wo ich bin und möchte endlich meinen Sohn sehen!" Sie löste sich von der Tischkante und baute sich zu ihrer ganzen (zugegebenermaßen verwerflichen) Größe auf.


„Dein Sohn, Lily Evans, ist sehr sehr weit weg", setzte die alte Dame an und lächelte müde, ohne dass das Funkeln ihre Augen zu erreichen schien. „Um genau zu sein, trennen uns nicht mehr als neunzehn Jahre, neun Monate und ein Tag von deinem Sohn." Die alte Frau hob eine Hand und lächelte matt. „Willkommen in den Sechzigern, Lily."


Lilys Augen weiteten sich, als die Bedeutung der Worte in ihrer vollen Endgültigkeit zu ihr durchsickerten und ehe sie auch nur eine Silbe der Überraschung oder des milden Erstaunens über die Lippen bringen konnte, verlor sie das Bewusstsein.


Sie hatte mindestens sechzig Minuten gebraucht, um aus ihrer Schockstarre freizubrechen. Sobald sie ein weiteres Mal an diesem Tag aus der Ohnmacht heraus von der verwirrenden Umgebung empfangen wurde, hatte sie schlotternd am Teppich gesessen, die Beine angewinkelt und die Arme darum geschlungen, als seien sie das einzige, das sie noch an einen reinen Verstand ketteten. Sie glaubte den Worten der Frau instinktiv, denn sie spürte in ihrem Inneren, dass die Zeit um sich sich fremd anfühlte. Das sanfte flimmern der Luft, das Lily immerzu als die schlichte Essenz der Zeit angesehen hatte, fühlte sich anders an an ihrer Haut. Nun, nicht zur Gänze fremd: Lilys hastige Rechnung hatte ergeben, dass der Tag, den die Frau ihr als den heutigen genannt hatte, ihr genauer Geburtstag war. Nicht etwa eine zigfache Jährung dieses Events, sondern viel mehr der ursprüngliche Tag, an dem Lily Evans geboren worden war. Sie konnte sich nicht erklären, warum ihr das wichtig vorkam, aber als sie sich aufrappelte und in die Küche der alten Dame stakste, so war dies die erste Frage, die sie stellte.


„Setz dich, mein Kind", sagte die Frau, anstatt auf ihre Frage einzugehen, und tätschelte auf den Stuhl neben sich. „Ich will dir einige Dinge bei etwas Tee berichten."


Lily, der höfliche Gehorsam immer schon ein hoher Wert gewesen war, ließ sich auf dem Küchenstuhl nieder und zog die Teetasse an sich heran, die man ihr vor die Nase gestellt hatte. Die Küche war ein winziger, vollgestopfter Raum. An den Wänden waren die Regale bis zum Anschlag angeräumt mit irgendwelchem nutzlosen Krempel, den sie sich nicht erklären konnte, der aber halb heraushing und sich der Gravitation mit bemerkenswertem Trotz entgegenstemmte. Die Küchenzeile darunter war so blitzend sauber, dass es genausogut der Wohnraum ihrer Schwester Petunia hätte sein können, aber der rostige Wasserkessel auf der hintersten Herdplatte hätte ihre Schwester an die Grenze eines psychodelischen Anfalls getrieben. Munter stieß er stetigen Dampf aus seinem Hals aus, während er leise vor sich hinzischte.


„Du bist in deiner Vergangenheit, Lily Evans, aber es ist gleichzeitig deine Zukunft, die du momentan in Händen hältst", eröffnete ihr die alte Dame und nippte an ihrem Tee. Sie schien sich verbrannt zu haben, denn sie stellte ihn hastig wieder ab, und blickte Lily aus ihren grünen Augen an. „Du bist von einer uns unbekannten Macht heute zum siebzehnten Mal reinkarniert worden."


„Was?", stieß Lily hervor und spürte, wie sich ihr der Hals zuschnürte. „Siebzehn Mal?" Sie wollte hervorstoßen, dass dies nie im Leben sein könne, aber ihre Stimme versagte ihr kläglich. „Was in aller Welt will das Universum von mir, als dass es mich schon zum zigfachsten Mal in mein Geburtsjahr setzt?", murmelte sie stattdessen konfus und strich sich eine Strähne ihres langen roten Haares aus der Stirn. "Was ist die kosmische Bedeutung hinter diesen Umständen?"


Die alte Dame hob die Schultern in einer resignativen Geste. „Ich weiß es selbst nicht, mein Kind. Aber ich nehme an, dass du Verantwortung tragen sollst, dass die Zukunft sich nach einem bestimmten Muster entfaltet." Lily schüttelte den Kopf. „Dafür bin ich gänzlich ungeeignet-"


„Das Universum wird es schon wissen, wozu du dich eignest", meinte die andere Frau und strich mit ihrer alten Hand über die Tischplatte, um ein paar Krümel zusammenzuscheren. „Und anscheinend gehört die Rettung der Menschheit dazu." Lily lächelte matt ob des Vertrauens, das die alte Dame in sie setzte. War das das siebzehnte Mal dieser Reinkarnation, weil sie so oft schon gescheitert war und dies nun ein weiterer unter dutzend Versuchen war, die Zukunft zu richten?


„Ich weiß doch noch nicht einmal, was ich tun soll. Oder wozu ich hier bin!", brach es trotzdem aus ihr heraus. „Oder ob ich schon so oft gescheitert bin, dass ich hier bereits zum siebzehnten Mal sitze."


„Ich glaube vielmehr, dass du jedes Mal Erfolg hattest, und du folglich in einem ewigen Kreisschluss der Erhaltung einer Unendlichkeit festhängst. Du darfst dir kein einziges Mal einen Fehler erlauben, sonst ist möglicherweise dein Auftauchen hier auf ewig verpfuscht und deine zukünftige Welt dem Untergang geweiht." Die alte Dame lehnte sich vor. „Deine vorherigen Ichs konnten mir auch nicht sagen, was sie hier verrichten sollen. Erst, als ich ihnen gegenüber erwähnt hatte, dass ein junger Zauberer Namens Tom Riddle Gerüchten nach diesen Abend die Straßen durchstreifen solle, schien etwas wie ein Funken der Erkenntnis durch deine Vorgängerinnen zu gehen."


Lily dachte nach. Tom Riddle sagte ihr etwas, aber sie wusste nicht, wie genau sie diesen Namen einzuordnen hatte. Er plätscherte dicht unter der Oberfläche ihres aktiven Bewusstseins, schien sich aber keinen Weg zu ihr schaffen zu können. Ob einfach das Wissen um ihn nicht mit ihr reinkarniert wurde, oder ob sie tatsächlich nie von ihm gehört hatte, konnte sie nicht sagen. Tom Riddle schien ihr plötzlich instinktiv eine zentrale Figur in ihrem Auftauchen an diesem bestimmten Tag, und das allein reichte ihr, um sich entschlossen aufzurichten. Die alte Frau bedachte sie mit einem vorsichtigen Blick, aber Lily straffte lediglich die Schultern. „Ich werde ihn suchen. Ich muss ihn suchen."


„Kennst du ihn denn?", wollte die Dame behutsam wissen und kehrte ihre Krümel von der Tischplatte in ihre offene Hand.


„Ja", antwortete Lily und instinktiv wusste sie, dass es stimmte. Sie konnte den Ursprung ihrer Antwort nicht erfassen, aber ihre Richtigkeit war ihr intrinsisch gewahr.


Sie stand auf, und durchquerte die kleine Küche mit wenigen Schritten, bis sie an der Tür stand. Sie drehte sich noch einmal um, und sah die alte Frau in ihrer Küche an. „Was ist mit den anderen Lilys passiert?", wollte sie mit ruhiger Stimme wissen. „Wo sind die anderen sechzehn?"


Die alte Frau lächelte matt und schlug die vertraut smaragdgrünen Augen nieder. „Kannst du es dir nicht denken?" Lily konnte nicht einmal behaupten, dass sie überrascht gewesen sei. Sie hätte der alten Dame nicht gar so viel blindes Vertrauen geschenkt, wenn sie ihr wie eine Fremde vorgekommen wäre. „Ist es schlimm?", wollte sie mit zitternder Stimme wissen.


Die alte Frau schüttelte lächelnd den Kopf. „Wir haben es noch jedes Mal geschafft." Dann wurde ihr Blick ernst. „Aber pass auf, wenn du ihn triffst. Er hat eine ungewöhnlich betörende Art." Damit löste sie sich in dünnen, weißen Rauch auf Lily war mit dem drückenden Gedanken ihrer Zukunft allein.


Sie traf ihn nicht sofort, aber es wäre auch zu einfach gewesen, nicht stundenlang durch ein ihr unbekanntes Gassengewirr zu stolpern und ihr Ziel nach kurzem Leid zu erreichen. „Tom?", fragte sie einmal vorsichtig nach, aber keine Antwort erklang aus den hohlen Backsteinmauern, die sie seit gefühlten Stunden zu passieren schien. Es wäre eben zu einfach gewesen. Und so ging sie, allein mit ihren Gedanken, ermattet durch die nächtlichen Gassen und überlegte, was ihr Ziel sein sollte. Die alte Dame, die andere Lily, hatte ihr versprochen, dass sie es schaffen konnte. Aber was genau? Lily bereute es, nicht in dem Moment nachgefragt zu haben, als sie die wahre Herkunft der anderen entschlüsselt hatte.


Sie war sich jetzt sicher, dass sie auf ihren Tod hinarbeitete. Wenn sie bereits sechzehn Mal in derselben Küche gestanden hatte und jedes Mal wieder ihre Handlungen zu ihrem endgültigen Tod in der Zukunft geführt hatten, der sie wiederrum neunzehn Jahre in die Vergangenheit geschleudert hatte, was sie wiederrum an ihren Tod 1979 geführt hatte, so wusste sie nicht, was sie tun sollte. Wie stellte man es sicher, dass man starb? Wie garantierte man sein eigenes Ableben mit einer Gewissheit, welche die gesamte Menschheit zu schützen hatte? Lily seufzte und stapfte mit den Händen tief in den Taschen vergraben durch eine besonders düstere Seitegasse. Sich vor ihren Sohn zu werfen, als Voldemort ihn zu töten suchte, schien die richtige Wahl gewesen zu sein, dachte sie bei sich. Die andere Lily hatte erwähnt, dass es ihrem Sohn gut ging. Sie musste lediglich garantieren, dass sie ihren Sohn schützte, denn sein Überleben schien klar und deutlich derjenige Umstand zu sein, den sie sicherstellen musste, um „das Überleben der Menschheit zu sichern". War ihr Sohn derjenige, der das Schreckenregime Voldemorts zu einem Ende bringen sollte? Warum war sein Leben so wichtig für die Zauberergemeinschaft? Lily kannte die Antworten noch weniger als den Weg durch das Gassengewirr, aber sie stolperte dennoch weiter, ihren Zauberstab fest in ihrer linken Hand. Sie wirkte einen neuerlichen Lumos, da der davorige unter ihrer schwindenden Aufmerksamkeit blasser geworden war. „Konzentrier dich auf das hier und jetzt", raunte sie sich selbst zu und leuchtete eine düstere Nische hinter einem Haus aus, nachdem sie ein dumpfes Rascheln vernommen hatte. Ein fetter Truthahn schob sich an ihr vorbei und zockelte die Gasse entlang. Sie seufzte und sah dem Vogel nach. Sie wünschte, sie könnte ihre Wege auch mit so viel gleichgültiger Gelassenheit beschreiten.


Sie drehte sich um, um in die andere Richtung weiterzutapsen, aber ehe sie es sich versah, war sie in eine hohe Gestalt geprallt und konnte es um ein Haar vermeiden, unelegant zu Boden zu fallen. Hastig löschte sie ihren Zauberstab und ließ ihn in ihrem Ärmel verschwinden. „Entschuldigen Sie tausend Mal", brachte sie hervor und glättete unbeholfen ihr Oberteil. „Ich wollte Sie keineswegs anrempeln." Sie blickte zu ihm auf und sah in sein Gesicht. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb ihr der Atem weg. Sie wusste nicht, ob sie den Mann vor ihr als schön bezeichnen konnte, oder ob seine ästhetische Fülle an reiner, überwältigender Perfektion an Schrecken grenzen sollte. Seine hohen Wangenknochen verliehen ihm eine zweifellos aristokratische Aura, die durch das zarte Lächeln um seine eleganten Lippen nur unterstützt wurde. Seine Augenbrauen standen in geschwungener Neugierde festgefroren über den tiefschwarzen Augen, deren dichte Wimpern tanzende Schatten auf seine eingefallenen Wangen malte. Sein Gesicht war so blass wie der Schnee, der auf seinen Schultern glitzerte.


„Was treibt denn eine junge Hexe wie sie selbst des Nachts in den Straßen Tiranas?", wollte er mit geschmeidiger Stimme wissen und Lily blieb fast das Herz stehen, so sanft schienen seine Worte sie einzulullen. Sie vergaß zu fragen, was sie in Albanien machte, noch erkundigte sie sich nach seinem Namen. „Ich bin geschäftlich unterwegs", hauchte sie unbeholfen und bemerkte plötzlich, dass seine Hände immer noch auf ihren angewinkelten Ellbogen ruhten. Er musste sie aufgefangen haben, als sie in ihn hineingestolpert war. Vorsichtig wich sie einen halben Schritt zurück und er ließ sie los. „Geschäftlich?", wiederholte er und es lag eine unweigerliche Skepsis in ihrer Stimme, während er den Kopf schräg legte, um sie zweifelnd aus seinen schwarzen Iriden anzublinzeln.


Sie nickte, ihrer Stimme nicht die Last der Worte zutrauend, und tat eine Geste, die die gesammelten Gassen um sie herum umschließen sollten. „Ich habe mich verirrt", meinte sie unbeholfen und stakste ein paar Schritte von ihm fort. Aus sicherer Distanz einiger Fuß vermochte sie ihn einer zweiten Beobachtung zu unterziehen, die ihr unter dem betörenden Einfluss seiner sanften Stimme kaum gelungen war. Sie war sich nicht sicher, ob ihre Augen ihr einen Streich spielten, aber seine gemeißelten Züge wirkten aus der Distanz wächsern und veschwommen, als hätte ein flimmriger Glanz sich über ihr Augenlicht gelegt. Sie schüttelte den Kopf fast unmerklich und blickte ihn mit sturer Neugierde an. „Was führt Sie nach Albanien?", wollte sie wissen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Geschäftliches", antwortete er mit einem verschmitzten Lächeln und setzte sich suggestiv in Bewegung. „Kommen Sie aus diesem Gassengewirr heraus, das bringt sie noch um den Verstand." Er drehte sich im Gehen um und bedeutete ihr, ihm zu folgen. „Ich will Ihnen die Altstadt zeigen; Die dürfte Ihnen um einiges besser gefallen."


Entgegen allen Verstandes folgte Lily ihm. Um die klare Dominanz seines Vorausschreitens nicht zu unterstützen, schloss sie zu ihm auf und verfiel neben ihm in einen ruhigen Gleichschritt. Seine Schuhe waren recht unscheinbar für den stattlichen Mann, als der er sich ihr bisher präsentiert hatte. Sie waren schwarz, aber unlackiert und hatten einen stumpfen Glanz. Lily war sich sicher, trockenen Erdstaub an ihnen anhaften zu sehen. Sie löste ihren Blick von seinem Schuhwerk und sah stattdessen ihn von der Seite an.


„Was treiben sie wirklich in Albanien?", wollte sie wissen und musste beschleunigen, um mit ihm mithalten zu können. Er schwieg für ein paar Augenblicke zu lange und Lily war sich bereits sicher eine unsichtbare Grenze des höflichen Anstands übertrampelt zu haben, da öffnete er erst wieder die Lippen: „Ich suche etwas. Etwas von großem Wert."


„Doch nicht etwa ihr Glück?", scherzte Lily, erleichtert, dass er sie nicht auf der Stelle gesteinigt hatte.


„Etwas, das unweigerlich damit verknüpft ist." Seine Augenbrauen schoben sich zusammen und er blickte finster in die Ferne.


„Und wie läuft diese Suche bisher?", wollte sie neugierig wissen und sah ihn wieder von der Seite her an. Er zuckte mit den Schultern. „Es geschieht, was nun einmal so geschehen will", erwiderte er höchst kryptisch und Lily zog die Stirn in Falten.


Just in dem Moment brachen sie auf die Hauptstraße hinaus und waren mit einem Mal von regem Getummel umgeben. Lily vergaß die mysteriöse Suche des fremden Mannes und sah sich mit großen Augen staunend um. Die Straße war vom Winter auf eine Weise überfallen worden, die ihrem englischen Wesen vollkommen fremd war. Schnee lag wie ein sanfter Schimmer über dem gesamten Platz, bedeckte Straßen und Häuser wie ein zarter Film der glitzernden Freude. Zwischendurch schimmerten Eiszapfen an den Dachrinnen, fingen das Licht auf und warfen es zurück als gelte es um die Wette zu funkeln. Ein Großteil der Menschen war hastig unterwegs, hatte die Nase in ihre riesigen Schals gesteckt und versuchte sich so rasch wie möglich der beißenden Kälte zu entziehen. Lily war verzaubert. Sie legte den Kopf in den Nacken und starrte die wirbelnden Flocken an, die so viel zarter und sanfter wirkten als die dicken, runden Schneeflocken, die sie aus England kannte. Sie waren nahezu ein sanftes Versprechen, dass alles sich wieder einrenken würde, dass sie nicht alleine war, denn im Grenzfall konnte sie Trost in der Gesellschaft der abertausenden Schneeflöckchen finden, die ihr so freudig entgegentaumelten.


„Es ist unglaublich", hauchte Lily und beobachtete mit kindlicher Faszination, wie die Dampfwölkchen aus ihrem Mund sich mit der kalten Abendluft vermengten.


„Sie leuchten", bemerkte ihr Begleiter mit milder Überraschung und sah sie unter gehobenen Brauen an. Tatsächlich, als Lily an sich herabblickte, schien ein stetiger, silberner Glanz von ihr in ruhigem Flimmern auszugehen. Sie kam sich im ersten Moment selbst vor wie eine Schneeflocke und kicherte. „Es ist traumhaft", seufzte sie, und blickte ihren Begleiter lächelnd an. „Danke, dass Sie mich hierhergeführt haben, Mr...?"


Er erlaubte sich ein schmales Lächeln, und seine Kieferkochen traten scharf hervor. „Riddle, Tom Riddle."


Sie lächelte ihn schelmisch an. „Nun, Mr Riddle, wollen wir das taumelnde Wunder aus der Wärme eines Cafés heraus betrachten? Meine Zehen beginnen zu frieren." Die Ablehnung stand ihm ins Gesicht geschrieben, und so waren er und sie gleichermaßen überrascht, als seine Lippen ein knappes „Ja" hervorstießen. Sie strahlte ihn an und er erwiderte ihre Geste mit einem sachten Heben seines linken Mundwinkels. Er sah verwegen aus, mit diesem halbherzigen Lächeln auf den Lippen.


„Aber das ist ja wunderbar, Mr Riddle, wunderbar", verlieh sie ihrer Begeisterung Worte und hakte sich bei ihm unter. "Wohin wollen wir gehen?"


Er gestikulierte matt in eine ungefähre Richtung der Straße und ließ sich von ihr mitschleifen.


"Warum begeistert Sie der Schnee nicht so, Mr Riddle?", erkundigte sie sich mit sanfter Neugierde. "Sie sehen aus wie ein Mann, der die Kälte schätzt."


Er nickte sachte. "Ich finde die Faszination des Schnees unleugbar", räumte er mit seiner surrenden Stimme ein. "Aber ich ertrage die Konformität unter den Schneeflocken nicht. Ihre Anonymität, ihre Wirkungskraft lediglich in der Masse; das sind Prinzipien, die mir widersprüchlich sind."


Lily überlegte kurz und sah einem Eichhörnchen nach, dass einen Baum am Straßenrand erklomm und den Schnee aus den Ästen beutelte. "Aber ist das nicht die Faszination des Einzelen?", fragte sie ihn und beobachtete seine Mimik genaustens. "Ist nicht die geballte Kraft der Einigung das, was uns Menschen zu Menschen macht?"


"Was ist, wenn man kein Mensch sein will?", fragte er leise und ihre Schritte knirschten ohrenbetäubend laut im Schnee, als sie beide keine Antwort auf seine Frage finden wollten.


„Sie sind unter Ihrer oberflächlichen Naivität unglaublich intelligent, wissen Sie das?", fragte er sie, während er ihr die Tür für ein rustikales Café am Straßenrand aufhielt. „Sie stellen ein hohes Verständnis für unsere Gesellschaft unter Beweis, das ist selten zu finden in jungen Hexen und Zauberern dieser Zeit."


Sie klimperte scherzhaft mit den Wimpern. „Es freut mich zu hören, dass ich Sie von mir überzeugen konnte, Mr Riddle", grinste sie und schob sich in die wohlige Wärme des Cafes. „Wann soll die Hochzeit stattfinden?"


Er lachte tatsächlich, leise und tief zwar, aber es war ein warmer Laut, der aus seiner Kehle blubberte wie eine lebhafte Winterglocke. „Natürlich, wir werden die Vorkehrungen ehebaldigst treffen, Miss", schmunzelte er, und führte sie an einen kleinen Tisch an einer breiten Glasscheibe, von dem die Straße ausgezeichnet überblickt werden konnte.


Kaum saßen sie, eilte ein Kellner herbei.


„Mylord", begann er in brüchigem Englisch, aber Tom schnitt ihm das Wort mit einer knappen Handbewegung ab. Es folgte ein rascher Schlagabtausch auf Albanisch, dem Lily nicht folgen konnte, aber es ging hervor, dass Tom den Kellner kennen musste, da die Gestik der beiden von tiefer Vertrautheit sprach. Lily genoss es, wie die kehligen Laute der fremden Sprache Tom über die Zunge rollten, es schien auf eine fremde Weise faszinierend.


„Çlirim hier ist ein wenig konfus", erklärte Tom mit einem ungehaltenen Seitenblick auf den Kellner, sobald die beiden ihre Diskussion zu einem Abschluss gebracht hatten. „Sein Englisch ist nicht das beste."


Lily winkte ab. Ihr war es egal, was Tom für sinistre Machenschaften zu verbergen hatte; der Moment schien ihr zu kostbar, um ihn durch Fragen verderben zu wollen.


Er bestellte in den selben tiefen, gutturalen Lauten einen Café für Lily und einen Whiskey Sour für sich selbst.


„Was halten Sie von der Unendlichkeit, Mr Riddle?", wollte Lily wissen, während sie den zarten Tanz der Flocken beobachtete. „Finden Sie dieses Konzept ebenso verwerflich wie das der Menschlichkeit?"


Tom sah sie von der Seite her an. Aus den Augenwinkeln erkannte sie, dass seine Kieferknochen in stummer Überlegung mahlten.


„Unendlichkeit ist nur für das Endliche ein Konzept", antwortete er nach einer gefühlten Ewigkeit und seine Stirn lag in tiefen Furchen. „Derjenige, der das Endliche in seiner reinsten Form des Todes zu überwinden mag, der hat auch die Unendlichkeit dadurch überwunden, dass er zu ihr geworden ist."


„Unsterblichkeit also, Mr Riddle", kommentierte sie und verzog ihr Gesicht in einer nachdenklichen Grimasse. „Sie sind ein kurioser Mann, wissen Sie das?"


Er lächelte ihr über den Rand seines Tumblers verschwörerisch zu und in diesem Moment wusste Lily, dass, egal was auf sie zukommen würde, egal, wie oft sie es durchstehen müsste, sie würde Tom Riddle jedes einzelne Mal wiederfinden und ihn wenigstens für einen Tag an ihrer Seite wissen.


Sie wandte ihren Blick wieder auf den Schnee und spürte Toms Präsenz an ihrer Seite plötzlich weitaus deutlicher als die Angst, die sie seit ihrem Aufwachen in ihrem Herzen trug.


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A/N: Ich verrecke, das war das anstrengendste, was ich jemals gemacht hab,
Hilfe.
-Emma xx

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